Laudatio auf die Stadt Tübingen

Preisverleihung Gender Award – Kommune mit Zukunft 2023

 1. Preisträgerin in der Kategorie Kommune mit weniger als 100.000 Einwohner*innen

Laudatio 

Von Cécile Weidhofer, EAF (Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin e.V. ), Senior expert, verantwortlich für das Helene Weber Kolleg

 

Mein Name ist Cécile Weidhofer und ich habe die Freude und Ehre die Laudatio auf die Stadt Tübingen zu halten.

Tübingen habe ich lange Zeit mit dem Hölderlinturm in Verbindung gebracht. Ein Plakat des Turms hing in meinem Gymnasium in meiner Heimatstadt Aix-en-Provence an der Wand. Aix-en-Provence und Tübingen sind seit 1960 Partnerstädte, 1965 wurden sie dafür mit dem Europapreis des Europarates ausgezeichnet. Deutschland war für mich also lange Zeit Tübingen. Spätzle, Maultaschen und Hermann Hesse.

Im Studium, das ich zum Teil dort absolvieren durfte, habe ich gemerkt: Die wunderschöne Universitätsstadt hat deutlich mehr zu bieten und ich liebte es! Ein Spaziergang am Neckarufer oder durch die kleinen Gassen. Eine Tour mit dem Stocherkahn. Kaffee trinken am Holzmarkt. Ich bin gerne zum Schloß Hohentübingen gewandert, um den atemberaubenden Blick über die Stadt zu genießen. Und ich fand immer nette Kommiliton*innen, die übersetzen konnten, wenn zum Beispiel der Mitarbeiter der Telekom per Fernwartung und auf Schwäbisch in meiner Wohnung Internet einrichten wollte. Ja, ich liebte die Stadt. Welchen gleichstellungspolitischen Herausforderungen die Kommune begegnete, wusste ich damals natürlich nicht.

Sie können sich also vorstellen, wie spannend es war, die Bewerbungsunterlagen von Tübingen zu lesen. Tübingen wurde für mich von der romantischen Stadt der Dichter und Gelehrter zur Stadt der Netzwerker*innen und Macher*innen. Eine Stadt die – um gleichstellungspolitische Ziele zu erreichen-  auf strukturelle Veränderungen und individuelle Förderung setzt. Und das so erfolgreich, dass die Jury es sich einig war:  die Stadt am Neckar hat den ersten Preis in der Kategorie unter 100 000 Einwohner*innen verdient. Herzlichen Glückwunsch!

Tübingen war schon lange in Sachen Gleichstellung aktiv. Der Prozess beschleunigte sich aber 2017, als die Stadt der „Europäischen Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern auf kommunaler und regionaler Ebene“ beitrat. Die Verwaltung nutzte das Jubiläum zu 100 Jahren Frauenwahlrecht um die Charta bekannt zu machen und den Aktionsplan vorzubereiten. Der anspruchsvolle Aktionsplan zur Umsetzung der Charta wurde 2021 veröffentlicht.  An dessen Ausarbeitung waren Vertreter*innen aus Verwaltung, Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft beteiligt. Dieser partizipative Ansatz wird etwa durch die Begleitung des Aktionsbündnisses Gleichstellung bei der Umsetzung des Aktionsplans verstärkt. Das Aktionsbündnis ist übrigens offen für alle, die sich in Tübingen für Geschlechtergerechtigkeit engagieren wollen. 

Zum Aktionsplan sagte die Gleichstellungsbeauftragte Luzia Köberlein: „Wir schauen nun mit Geschlechterperspektive auf unterschiedliche kommunalpolitische Handlungsfelder. Mit der Umsetzung der EU-Charta schließen wir eine strategische Lücke in unserer lokalen Gleichstellungspolitik“, In der Tat sind Maßnahmen zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit in Tübingen vielschichtig und greifen in vielen Bereichen ein. 45 Maßnahmen sollen bis 2024 von der Stadtverwaltung umgesetzt und anschließend evaluiert werden!

Bemerkenswert fand die Jury z.B. die Maßnahmen, um die Präsenz von Frauen in Führungspositionen in der Verwaltung und in der Politik zu fördern. Die Verwaltung befasst sich aktuell mit dem Thema „Führen in Teilzeit“, um Wege zu ebnen, damit Frauen aus einer Teilzeitposition heraus Karriere machen können.

2019 verständigte sich eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des Gemeinderates und der Verwaltung auf konkrete Maßnahmen, um die Ratsarbeit effizienter und attraktiver zu gestalten. Ein Vorbild für anderen Kommunen! Auch vorbildlich: Seit der Kommunalwahl 2019 ist der Tübinger Gemeinderat fast paritätisch besetzt.

Das ist sicherlich auch ein Grund, warum in Tübingen Gender Monitoring und Gender Budgeting gelebte Realität ist. Unter anderem wird die Sportförderung geschlechtersensibel und geschlechtergerecht betrachtet. Zum Beispiel werden zusätzliche Angebote für Mädchen und Frauen auch mit Migrationshintergrund geschaffen und Sportvereine darin unterstützt, weibliches Führungspersonal zu gewinnen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es der Kommune ganz klar darum geht, traditionelle Geschlechterstereotype und Rollenstrukturen aufzubrechen, geschlechtsbezogener Gewalt und geschlechtsbezogener Diskriminierungen entgegenzutreten und eine intersektionale Erinnerungskultur zu fördern.

Zwei Projekte möchte ich Ihnen genauer vorstellen:

Die Ausstellung „Queer durch Tübingen - Geschichten vom Leben, Lieben und Kämpfen“ war 2021 und 2022 im Stadtmuseum zu sehen und sie war das Ergebnis eines in Baden-Württemberg einzigartigen Forschungsprojektes.  Zum ersten Mal wurde die Geschichte der queeren Community in Tübingen seit dem Mittelalter dargestellt. Auf Initiative des Fachbereichs Kunst und Kultur gibt es seit zwei Jahren eine queere Woche mit vielfältigem Programm. Das Forschungsprojekt, die Ausstellung und die Queere Woche sorgten für überregionale Aufmerksamkeit und laden zum Nachahmen ein.

Bemerkenswert ist ebenfalls der fortlaufende Ansatz der Stadt, Projekte zu fördern, die sich mit der Ausgrenzung von Minderheiten beschäftigen und, die die Stadtgeschichte aus weiblicher Perspektive sichtbar machen. Wie beim Komponistinnen-Festival, welches das Leben und Werk der Tübinger Komponistin Josephine Lang und drei ihrer Zeitgenossinnen würdigt.  Erlauben Sie mir einen kleinen Werbeblock: Das Festival findet vom 29. September bis zum 1. Oktober 2023 statt.

Vielleicht schaffe ich es, zum Festival zu gehen. Und wenn es Plakate gibt, schicke ich eins an mein ehemaliges Gymnasium in Aix-en-Provence.  Meine Deutschlehrerin ist zwar mittlerweile pensioniert, aber vielleicht nimmt die aktuelle Lehrkraft das Plakat als Anlass, ein Bild von Tübingen zu zeigen, das mehr als Hölderlin ist. Das Bild einer Stadt, deren langjährige gleichstellungspolitische Arbeit Früchte trägt und noch viele weitere positive Veränderungen bewirken wird.